Einstürzende Altbauten

Ouvir episódio

In Dresden fällt eine Brücke ins Wasser. Einfach so und ohne Ankündigung. Von wegen: Jahrzehntelange Verwahrlosung in Hoheit eines entkernten Staates sind das bröselnde Fundament, auf dem künftig noch allerhand mehr in die Brüche gehen wird. Die Lehre daraus muss lauten: Vermögensteuer jetzt! Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.

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Einfach eingestürzt. Die Carolabrücke in Dresden. In der Nacht auf Mittwoch, um 3 Uhr, kracht ein Brückenzug auf rund 100 Meter Länge in die Elbe, urplötzlich, wie aus dem Nichts. Im fernen Vietnam brauchte es dieser Tage einen Taifun von historischer Gewalt und sintflutartige Regenfälle, um eine Brücke über den Roten Fluss nördlich von Hanoi zu bezwingen, mit einer bislang unbekannten Zahl an Toten. Trotzdem wartete man förmlich auf deutsche Expertenkommentare der Sorte „Pfusch am Bau“ und „Korruption“. Die verbieten sich ab sofort – ein für alle Mal.

In Dresden herrschte zum Zeitpunkt des Absturzes Allerweltswetter, der Pegel der Elbe normal. Hier waren andere Kräfte am Werk, keine Sprengsätze, keine Saboteure, nicht einmal Russen. Der Ingenieur Manfred Curbach vertrat tags darauf diese Version: „Heute Nacht haben wir ein unkontrolliertes Versagen des Bauwerks erlebt.“ Das ist gewiss nicht falsch, aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn bis zum Einsturz war das Versagen, das politische, nicht das des Spannbetons, noch unter „Kontrolle“, weil eben noch nicht sichtbar. Jetzt zeigt es sich in aller Offenheit, es schreit förmlich zum Himmel.

Glück im Unglück

Dabei war das Unglück sogar ein Glücksfall. Opfer sind keine zu beklagen. Bis jetzt nicht. Da sich von Tschechien kommend große Wassermassen ankündigen, könnte in Dresden bald Land unter herrschen. Die Trümmer im Wasser verstopfen den Abfluss. Der deutsche Investitionsstau ist nichts weniger als lebensgefährlich. Man stelle sich vor, die Carolabrücke wäre am helllichten Tage in die Knie gegangen, unter der Last einer Straßenbahn. Auf dem abgebrochenen Strang verkehrte die Tram, daneben verliefen ein Fußgänger- und ein Radweg. In der Rush Hour hätten mithin Dutzende Menschen in den Tod stürzen oder ertrinken können. Tatsächlich querte ein Straßenbahnzug nur 18 Minuten vor dem Zusammenbruch die Elbe. Er hat der Brücke im denkbar günstigsten Moment den Rest gegeben. „Nicht auszudenken, wenn es am Tag passiert“, befand Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU).

Man muss sich Katastrophen wie diese, viel schlimmere noch, gar nicht ausdenken. Man kennt sie und man kann sie kommen sehen, auch bei uns in Deutschland. Sie werden passieren, wenn nicht rasch etwas passiert. Vor sechs Jahren rauschte in Genua die vierspurige Ponte Morandi mitten in der Stadt 40 Meter in die Tiefe. 43 Menschen verloren ihr Leben, Hunderte ihr Heim. Die Verantwortlichen wussten schon zehn Jahre davor von der Baufälligkeit. Vor Gericht beschied später ein früherer Manager der zuständigen Benetton-Holding: „Vieles haben wir nicht gemacht, was wir hätten tun sollen. Dumm war das. Aber wir haben es eben nicht gemacht“.

Kaputtland

Das passt! In Deutschland wird seit Jahrzehnten nichts gemacht, wo längst hätte Hand angelegt werden müssen: an Straßen, Brücken, Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Rathäusern, Bahnhöfen, Schienen. Überall bröckelt der Putz, stinken die Klos, gammelt es vor sich hin. Mithin ist so viel kaputt, dass gar nichts mehr geht, wie bei der Deutschen Bahn. Oder Nötiges wurde gleich ganz plattgemacht – Jugendclubs, Schwimmbäder, Sozialstationen, Krankenhäuser –, um Platz zu schaffen für Luxuswohnungen, Badeparadiese und Konsumtempel. Dabei gehen Verwahrlosung und Raubbau ganz ohne „dolce vita“ ab, ohne faule und korrupte Beamte. Einfach deshalb, weil man mittels Spardiktaten, Schwarzer Null und Schuldenbremse so viele Staatsbedienstete entsorgt hat, dass der Laden von allein vor die Wand fährt.

Fürs Wegsehen braucht es auch keine Geldgeschenke. Der Apparat ist bis zur Betriebsblindheit runtergerockt. Zum Beispiel reicht bei zehntausenden Brücken im Land eine Handvoll Prüfer nicht aus, um zu wissen, welche sich dem Zahn der Zeit wann werden beugen müssen. Immerhin hatte man im Fall der Carolabrücke im Blick, dass Gefahr im Verzug ist – aber handelte zu spät. Ab 2019 wurden in fünf Jahren zwei der drei Züge in Schuss gebracht und erst im vergangenen März für den Verkehr freigegeben. Die Ertüchtigung der dritten Fahrbahn sparte man sich auf, für die Zukunft. Wegen knapper Kassen wurde der Vollzug immer wieder verschoben, trotz bekannter „maßgebender Schäden“. Nun ist die gesamte Brücke einsturzgefährdet, kann mitunter nicht mehr instandgesetzt, muss vielleicht abgerissen und in Gänze neu errichtet werden. Das wird teuer. Erst recht, wenn man die Gesamtdimension dessen betrachtet, was seit einer halben Ewigkeit an Arbeit liegengelassen wurde in diesem Land.

Profiteure zur Kasse

Was die Sache noch perverser macht: Wenn die Regierenden in Bund und Ländern bei steigendem öffentlichen Druck demnächst tatsächlich zum großen „Wiederaufbau“ blasen, werden dieselben Akteure profitieren, die durch den Ausverkauf des Staates erst so reich geworden sind – Großindustrielle, Banker, Baulöwen, Immobilienhaie. Diverse Steuerreformen zugunsten von Reichen und Unternehmen, Privatisierungen und eine rabiate Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit haben in einstürzenden Altbauten ihre natürliche Entsprechung. Sie wieder herzurichten, verspricht Milliardenaufträge in gigantischem Stil und Zinsen, die den Staat noch für Jahrzehnte zum „Knausern“ nötigen werden. Dafür gibt es dann wenigstens schicke Autobahnen – gegen Nutzungsgebühr.

Aber so weit muss es nicht kommen. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht länger hinnehmen, dass ihr Gemeinwesen, ihre öffentliche Infrastruktur und ihre Systeme der Daseinsvorsorge geschliffen und geplündert werden. Der Staat muss im Gegenteil endlich wieder gestärkt werden und sich das Geld dafür von denen holen, die es im Überfluss haben. Die Einführung einer Vermögensteuer und drastisch höhere Abgaben für Konzerne sind schon sehr viel länger angezeigt. Mit dem Dresdner Brückensturz wird die Forderung dringlicher denn je. Schon beim nächsten Mal könnte es Tote geben.

Titelbild: Screenshot MDR