Warum ist es so still um die großen deutschen Soldatenfriedhöfe in Russland? – Eine Spurensuche

NachDenkSeiten – Die kritische Website
14 de setembro de 2024 16min

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Ouvir episódio

Vor der Stadt Rschew, 250 Kilometer nordwestlich von Moskau, liegen auf einem Friedhof 43.000 deutsche Soldaten begraben. Noch immer werden sterbliche Überreste von deutschen und sowjetischen Soldaten gefunden. Allein in diesem Jahr waren es 776 Tote, berichtet Dmitri, der an den Sucharbeiten in der Region Rschew beteiligt ist und der auch ein Museum leitet. Der deutsche Soldatenfriedhof wird – trotz der politischen Spannungen zwischen Russland und Deutschland – weiter vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gepflegt, wie die Pressestelle des Volksbundes auf Anfrage der NachDenkSeiten bestätigte. Russen und Deutsche arbeiten bei der Exhumierung von sterblichen Überresten deutscher Soldaten immer noch zusammen. Aus Rschew berichtet Ulrich Heyden.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Stadt Rschew hat etwas Idyllisches. Wenn der Himmel über der Stadt im Sommer mit luftigen Wolken geschmückt ist und man durch den Ort schlendert, in dem es keine Hektik und keine Menschenmengen gibt wie in Moskau, fühlt man sich ruhig und geborgen. Die Wolga schlängelt sich sanft durch die Stadt. Die Ufer sind grün und nicht betoniert.

Von Januar 1942 bis März 1943 tobten im Gebiet Rschew mit die grausamsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Rschew wurde total zerstört. 1941 lebten in der Stadt 56.000 Menschen. Als die Wehrmacht im März 1943 abzog, hatte die Stadt nur noch 360 Einwohner.

An die Grauen von damals erinnern nur noch Denkmäler. Am hohen Ufer über dem Wolga-Fluss gibt es einen „Park der Helden“. Dort sieht man in Metallplatten geschnittene Worte. Es sind die Verse aus einem berühmten Gedicht „Ich bin gefallen vor Rschew“ von Aleksander Twardowski. Das Gedicht wurde 1946 veröffentlicht.

Ich bin gefallen vor Rschew
in einem namenlosen Sumpf
in der fünften Kolonne, auf der linken,
bei einem harten Angriff

Im Zweiten Weltkrieg – in Russland genannt „Großer Vaterländischer Krieg“ – war Twardowski Kriegskorrespondent. Im Herbst 1942 besuchte er die Front bei Rschew, war aber nicht imstande, für seine Armee-Zeitung den obligatorischen Bericht schreiben. Er schrieb stattdessen Notizen in sein Tagebuch und später dann das Gedicht.

Warum er keinen Bericht für die Armee-Zeitung schreiben konnte, erklärt Twardowski wie folgt:

„Der Eindruck von dieser Reise war während des ganzen Krieges der bedrückendste und bitterste, bis zu physischen Schmerzen im Herz. Die Kämpfe waren schwer, es gab sehr große Verluste, es gab einen Mangel an Munition. Man brachte sie mit Packpferden.“

Twardowski tritt in seinem Gedicht in der Person eines getöteten Soldaten auf. Er ruft den Kameraden zu:

Ihr müsst, Brüder,
standhalten wie eine Wand,
denn verfluchte Tote –
das ist eine schreckliche Strafe.

In Sichtweite des deutschen Soldatenfriedhofes gibt es ein russisches Museum zum Thema Exhumierung von Soldaten und Bergung von militärischem Gerät aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Kampfgebiet um Rschew hatte „die Größe des Territoriums von Belgien“, erklärte mir Dmitri, der Leiter des Museums. Man kämpfte in Sümpfen und im Schlamm. Die Verluste waren unbeschreiblich. Auf deutscher Seite gab es Verluste von 700.000 Soldaten, auf sowjetischer Seite wird der Verlust offiziell mit 1,3 Millionen Soldaten beziffert. Zu den Verlusten zählen nicht nur Tote, sondern auch Verwundete, Vermisste und Kriegsgefangene.

Wenn man mit dem Auto durch das Gebiet um die Stadt Rschew fährt, trifft man gefühlt alle zwei Kilometer auf ein Schild, auf dem in weißer Schrift auf braunem Grund darauf hingewiesen wird, dass es links oder rechts der Straße einen Soldatenfriedhof oder ein Massengrab mit Soldaten gibt. Allein im Umkreis der Stadt Rschew lagen nach sowjetischen Schätzungen 70.000 sowjetische Soldaten in der Erde. 24.000 hat man in dem russischen Soldatenfriedhof vor Rschew beerdigt. Doch sowjetische Soldaten liegen noch in 40 Massengräbern, die während und nach dem Krieg für die sowjetischen Soldaten angelegt wurden.

Soldaten in drei Schichten

Dmitri erzählt, es gäbe Stellen, wie im Dorf Tolsty, wo sowjetische Soldaten in drei Schichten liegen. Und das kam so: Im Januar 1942 versuchten die sowjetischen Truppen, Rschew, dass von der Wehrmacht besetzt war, zu umzingeln und zu befreien. Aber das gelang nicht, die sowjetischen Soldaten kamen um.

Als der Frühling begann, hätten die deutschen Besatzer der Dorfbevölkerung befohlen, die Leichen der sowjetischen Soldaten in Schützengräben zu beerdigen, denn die Leichen begannen zu verwesen und die deutschen Soldaten hatten große Angst vor Infektionskrankheiten. „Sie zwangen die alten Leute, Kinder und Frauen, die im Dorf geblieben waren, die Leichen zu beerdigen. Es gab Stellen in der Region um Rschew, wo es noch 1956 Leichengeruch gab.

„Wenn wir Piloten aus der Erde holen, dann haben auch sie noch einen Geruch. Wenn wir an einem Detail riechen, wissen wir, dass es ein Flugzeug mit Piloten war. Das gibt einen spezifischen Verwesungsgeruch.“

Rschew im Schatten von Stalingrad

Die Schlachten um Rschew standen in der Sowjetunion und auch in Russland immer im Schatten der siegreichen Schlachten um Stalingrad und Kursk. Das hatte damit zu tun, dass es in Rschew keinen eindeutigen Sieg gab und die Verluste unbeschreiblich groß waren. Die Wehrmacht räumte ihre Stellungen im März 1943 in einer geordneten Operation. Nach dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad hielt die Führung der Wehrmacht einen geordneten Rückzug aus dem Gebiet Rschew für zwingend nötig.

Erst im Jahr 2018 bekam die „Schlacht von Rschew“ in der russischen Geschichtspolitik einen gebührenden Platz. Die Russische Historische Gesellschaft ließ vor der Stadt Rschew auf einem Hügel eine 25 Meter hohe Skulptur eines bronzenen Soldaten aufstellen, der nachdenklich vor sich hin blickt. Das Besondere an der Skulptur ist der Mantel des Soldaten, der sich in Kraniche auflöst. Kraniche sind in Russland das Symbol für die Seelen toter Soldaten, die am Himmel entlangziehen.

Der deutsche Friedhof in Rschew

Am nordwestlichen Stadtrand von Rschew gibt es einen großen deutschen Soldatenfriedhof. Er wurde 2002 eingeweiht. Dort liegen 43.000 deutsche Soldaten. Direkt daneben befindet sich ein russisch-sowjetischer Friedhof mit 20.000 Toten. Beide Friedhöfe liegen direkt nebeneinander, nur durch einen Zaun getrennt, in einem „Friedenspark“, in dem es auch Denkmäler für die jüdischen Opfer des deutschen Überfalls und Denkmäler für sowjetische Soldaten aus Kirgisistan und Kasachstan gibt.

Der deutsche Friedhof von Rschew erstreckt sich über eine Fläche von drei Hektar. Er besteht aus einer großen Rasenfläche, auf der kleine Kreuze aus Stein und zwei Meter hohe, graue Granitsteine stehen. Auf den Steinen sind – gut leserlich – die Namen der gefallenen deutschen Soldaten in alphabetischer Reihenfolge eingraviert. Nach Angaben der offiziellen Stellen in Rschew gibt es gegen den Friedhof keinerlei Vandalismus.

Deutsch-russische Jugendbegegnungen

Wie begann der Kontakt zwischen der Stadt Rschew und Deutschland? Anfang 1992 trat der Veteranenverein des ehemaligen Bielefelder Infanterieregiments 18 mit den Kriegsveteranen von Rschew in Kontakt. Der deutsche Kriegsveteran Ernst-Martin Rhein (1917-2016) war der Meinung, „dass in Ausübung ihrer Pflicht gefallene sowjetische Soldaten in gleicher Weise zu ehren seien, wie es bei Gefallenen der Westalliierten selbstverständlich war.“
(Quelle: de.rbth.com)

Die deutschen Veteranen starteten dann zusammen mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eine Initiative zur Einrichtung eines deutschen Soldatenfriedhofs in Rschew. Dieser Friedhof sollte mit einem russisch-sowjetischen Friedhof in einem „Friedenspark“ verbunden werden. Dieser Park wurde im Jahr 2000 eröffnet.

Zudem wollte man die Versöhnung zwischen Russen und Deutschen auf breitere Basis stellen. 1997 gab es die erste Begegnung zwischen deutschen und russischen Jugendlichen in Rschew. Eine Schlüsselrolle bei dieser Begegnung spielte Irina Kondratjewa, eine Deutschlehrerin aus Rschew. Die Jugendlichen aus beiden Ländern pflanzten gemeinsam Bäume im „Friedenspark“ und reinigten Kreuze.

Im Rahmen des Jugendaustausches beteiligten sich 400 russische und deutsche Jugendliche an Camps in Russland und Deutschland, in deren Rahmen Pflegearbeiten am Friedenspark in Rschew und dem Sowjetischen Ehrenfriedhof in der Stadt Stukenbrock-Senne (Nordrhein-Westfalen) durchgeführt wurden.

Der Höhepunkt der deutsch-russischen Verständigung war schließlich die 2009 vereinbarte Städtepartnerschaft zwischen den Städten Rschew und Gütersloh. In der Gründungsurkunde heißt es: „Im Bewusstsein der leidvollen Geschichte des russischen und des deutschen Volkes, in dem Willen, eine gemeinsame friedliche Zukunft zu gestalten, und in der Hoffnung, Freundschaft und gegenseitiges Verständnis zu vertiefen, haben die Städte Rschew und Gütersloh eine Städtepartnerschaft beschlossen.“

Gütersloh setzt Städtepartnerschaft aus

Im April 2022 setzte der Bürgermeister von Gütersloh Norbert Morkes die Städtepartnerschaft mit Rschew aus. Der Bürgermeister erklärte, man habe von der Stadt Rschew eine Verurteilung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erbeten, aber nicht erhalten. Deshalb ist für sie die Aufkündigung der Partnerschaft unausweichlich. In Gütersloh gab es Kritik an der Aufkündigung der Städtepartnerschaft. Sie äußerte sich in Leserbriefen an örtliche Zeitungen wie die Neue Westfälische und Die Glocke.

Um einen Kommentar zur Aufkündigung der Städtepartnerschaft gebeten, erklärte die Geschäftsführerin des Jugendaustauschwerkes im Kreis Gütersloh Olga Bünemann, die Fortführung des Jugendaustausches sei „aufgrund der politischen Entscheidungen nicht möglich“. Es sei „politisch gewollt, sich immer mehr abzugrenzen. Ich bedauere das. Wir verurteilen aufs Schärfste den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber wir scheren nicht alle Russen über einen Kamm.“

Nicht alle Menschen in Russland würden „dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zustimmen“. Schon Hugo Wöstemeyer, der 1959 das Jugendaustauschwerk in Gütersloh gründete, habe erklärt: „Man muss sich kennenlernen, damit keine Feindschaft und keine Vorurteile aufkommen.“ Wöstemeyer war Soldat im Zweiten Weltkrieg und in der katholischen Jugendarbeit aktiv.

Frau Bünemann, eine Russlanddeutsche, die 1991 mit ihren Eltern aus Kirgisien nach Deutschland kam und in Gütersloh zur Schule ging, erklärte mir, dass man auf „privater Ebene“ die Kontakte zu Deutschlehrern und Deutschlehrerinnen in Rschew fortführe. „Uns geht es nicht um Politik, sondern um Versöhnung und Verständigung.“

Die Geschäftsführerin hofft auf einen Neustart der Beziehungen zwischen Rschew und Gütersloh, aber das werde „lange dauern.“ Jetzt sei es nötig, wenigstens auf privater Ebene die Beziehungen aufrechtzuerhalten. „Ein Neustart ist schwieriger, wenn alle Beziehungen zusammengebrochen sind.“

Die Deutschen verstehen nicht, mit wem sie sich eingelassen haben“

Vor dem deutschen Soldatenfriedhof in Rschew kam ich mit zwei Russen ins Gespräch, Tatjana und Wladimir Lobanowa. Tatjana sagt, dass es ihr leidtut, „dass es jetzt so eine angespannte Situation zwischen Deutschland und Russland gibt“. Ob es eine Entfremdung zwischen Russen und Deutschen gibt, fragte ich Tatjana. Sie antwortete: „Wir sehen die Deutschen nicht. Wir wissen nicht, wie sie sich uns gegenüber verhalten.“

Zu den Frauen gesellte sich Wladimir, der Bruder von Tatjana. Der 70 Jahre alte Wladimir, der von Beruf Ingenieur ist, sagte: „Mein Vater hat den Deutschen, gegen die er kämpfte, vergeben. Ich habe den Deutschen nicht vergeben.“

Warum er den Deutschen nicht vergibt? „Weil viele Deutschen vergessen haben, was sie hier angerichtet haben. Ich erinnere mich sehr gut an die Armut, die nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ geherrscht hat. Wenn das so weitergeht, wird man das Gedächtnis auffrischen müssen. Wenn das auf politischem Wege nicht möglich ist, dann wird es politische Erschütterungen geben.“ Ich fragte, ob er den Einsatz militärischer Mittel meine. „Ja, militärische Mittel. Etwas anderes hat keinen Sinn.“

Und warum hat ihr Vater den Deutschen vergeben? „Mein Vater war im hessischen Ort Haiger in deutscher Kriegsgefangenschaft. Dort hat er gesehen, wie die Amerikaner die Deutschen behandelt haben. Sie haben Haigar mit einem Bombenteppich eingedeckt. Ich habe das Gefühl, dass die Deutschen das vergessen haben. Sie haben ein kurzes Gedächtnis. Mein Vater selbst hat damals Deutsche aus brennenden Häusern gezogen.“

Grün – die Farbe der Hoffnung

Museumsleiter Dmitri erzählte, dass man in diesem Jahr 776 sterbliche Überreste von Soldaten aus der Erde geborgen habe. Russen und Vertreter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge arbeiteten bei der Exhumierung zusammen. Es gibt also trotz Sanktionen und dem Abbruch der politischen Beziehungen eine Sphäre, wo die Zusammenarbeit noch funktioniert, denke ich mir – und das, obwohl ukrainische Soldaten mit deutschen Waffen gegen Russland kämpfen.

Dmitri führte mich dann in einen Saal, in dem seit Jahren eine Ausstellung des Volksbundes über seine Arbeit in Russland läuft. Dort sieht man Fotos von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier während Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Der Saal ist in frischem hellen Grün gestrichen. Grün ist ja die Farbe der Hoffnung, und in diesem Saal weht noch ein kleiner Hauch davon.

Als ich während meines Aufenthaltes in Rschew das neue große Denkmal des nachdenklichen Soldaten aus Bronze besuchte, sah ich viele Besucher vor der hohen Statue. Meist waren es ganze Familien, die rote Nelken niederlegten. Fast jede russische Familie hat im Zweiten Weltkrieg Angehörige verloren.

Mit schmerzhaften Gefühlen verließ ich Rschew. Die Aussicht, dass sich das Grauen von damals wiederholen kann, spornte mich an, diesen Bericht zu schreiben.

Im Zweiten Weltkrieg fielen auf dem Gebiet der Sowjetunion 2,2 Millionen deutsche Soldaten. 1,4 Millionen fielen auf dem Gebiet von Russland. Bis 2019 wurde 440.000 deutsche Soldaten auf russischem Territorium exhumiert und auf Friedhöfe umgebettet.

Seit 1992 wurden in Russland 22 große Sammelfriedhöfe für die sterblichen Überreste von deutschen Soldaten angelegt. Die größten befinden sich in der Nähe der Städte St. Petersburg (58.000 Soldaten), Wolgograd (64.000) und Kursk (54.000) und Rschew (43.000).

Siehe auch: Oktober 1941: Letzter Erfolg der Wehrmacht vor Moskau (nachdenkseiten.de)

Titelbild: © Ulrich Heyden