Exklusiv-Beitrag von Botschafter a. D. Varga: Falsche Argumente im Dienste von Angstmacherei und Krieg

NachDenkSeiten – Die kritische Website
13 de setembro de 2024 27min

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Ouvir episódio

Hüten Sie sich vor dem USA-Experten, der behauptet, die Präsenz russischer Militärstützpunkte auf Kuba sei eine souveräne Entscheidung einzig der beiden betroffenen Länder, und die USA hätten lediglich die Aufgabe, davon Kenntnis zu nehmen. Ebenso sollte man sich vor Russland-Experten hüten, die behaupten, die Präsenz von US-(NATO)-Stützpunkten in der Ukraine sei ein Schritt zur Stärkung der europäischen Sicherheit, der Russland nichts angehe. Seien Sie besonders vorsichtig bei Experten, die auf die beiden Fragen unterschiedliche Antworten geben. Das schreibt der ungarische Diplomat mit Spezialisierung auf den postsowjetischen Raum György Varga. Er war von 2017 bis 2021 Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Russland. Ein exklusiver Beitrag von Botschafter a. D. György Varga für die NachDenkSeiten, übersetzt aus dem Ungarischen von Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das Scheitern und die Kollateralschäden der Ukraine-Politik des politischen Westens sind für die meisten offensichtlich. Dies zeigt sich daran, dass laut einer in zwölf europäischen Ländern durchgeführten Umfrage zehn Prozent der Europäer glauben, dass die Ukraine gewinnen wird. In der Zwischenzeit verliert die Ukraine immer mehr Territorium und Bevölkerung, ihre Infrastruktur wird nach und nach zerstört. Wie der Hohe Vertreter der EU für auswärtige Angelegenheiten Josep Borrell sagte: „Dieser Krieg muss auf dem Schlachtfeld entschieden werden.“ Die Kollateralschäden sind die europäische Wirtschaft, die unter Energie-, Rohstoff-, Vertrauens- und Marktmangel leidet, die ideologisch bedingten internen Spannungen innerhalb der europäischen Institutionen und Gesellschaften, die durch die Sanktionen verursachte Störung der globalen Systeme (unter anderem Handel, Finanzen, Verkehr, Energie), die wachsende – aber zunehmend normale – Bedrohung durch den Terrorismus und die allseitige Abkopplung der Europäischen Union (EU) von ihrem natürlichen Nachbarn (dem postsowjetischen Raum) und den zahlreichen Vorteilen der Zusammenarbeit mit ihm.

Politische Erklärungen, die entweder aus Unkenntnis der grundlegenden Prinzipien und Gesetze der internationalen Beziehungen und der Sicherheitspolitik oder mit dem Ziel der bewussten Provokation abgegeben werden, erhöhen sinnloserweise das Risiko eines Übergreifens des Krieges in der Ukraine auf Europa, ohne dass die westlichen Entscheidungsträger und ihre Experten, die (im Voraus) vor der Verantwortung eines vermeintlichen Scheiterns fliehen, in der Lage wären, klare Folgenabschätzungen zu den Konsequenzen ihrer neuen Initiativen vorzulegen.

Die bisher unbekannten und unvorstellbaren Schritte zur Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine, zur Demütigung und Ausgrenzung der russischen Nation in den Bereichen Sport, Sprache und Kultur, zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten, zur Blockade strategischer Wirtschaftssektoren und Finanzmärkte sowie des Luftverkehrs zielen erkennbar darauf ab, die Voraussetzungen für eine kurz- und mittelfristige Normalisierung der Beziehungen zwischen der EU und Russland zu verhindern. In dieser Hinsicht geben die Aussagen der aktuellen deutschen Außenpolitik keinen Anlass zu Optimismus.

Kommuniziert die deutsche Regierung nicht mit ihren eigenen Militäranalysten?

Ich bin seit Jahrzehnten ein großer Bewunderer von Deutschlands positivem europäischen Engagement, deutscher Diplomatie, deutscher Präzision und Professionalität. Ich versuche immer noch, die Politik der deutschen Regierung, der deutschen Diplomatie und des deutschen Verteidigungsministeriums zu verstehen. Aber es ist schwierig, ihr rational zu folgen, denn die nationalen Interessen Deutschlands sind darin nicht vertreten. Im Nachrichtenstrom der westlichen Hysterie bin ich entsetzt über die Einschätzung des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius, dass Russland nach dem Krieg in der Ukraine weitere europäische, also NATO-Mitgliedsstaaten angreifen will. Deutschland müsse daher bis 2029 auch auf eine Bedrohung vorbereitet sein. Es müsse seinen Rüstungsetat erhöhen und sich auf einen Krieg gegen Russland vorbereiten.

Ich bin mir nicht sicher, ob die deutschen Militäranalysten dieselben militärischen Indikatoren beziehungsweise Fakten kennen und an ihren Minister weitergeben, die vom international renommierten Stockholmer Institut für Internationale Friedensforschung (SIPRI) und anderen legitimen internationalen Institutionen, die statistische Daten verarbeiten und für jedermann zugänglich sind, ständig aktualisiert werden.

Die Tatsachen sind hart!

Ein sachlicher Vergleich der vorliegenden militärischen Daten der NATO und Russlands zeigt Folgendes:

Die NATO hat fast dreimal so viele aktive Soldaten wie Russland. Das Verhältnis von rund einer Milliarde Einwohnern in der NATO zu 145 Millionen Einwohnern in Russland verdeutlicht den Unterschied beim Humankapital.Bei den Flugzeugen (Luftwaffe insgesamt) stehen 22.300 NATO-Flugzeuge 4.800 russischen Flugzeugen gegenüber, wobei das Verhältnis bei den Jagdflugzeugen/Abfangjägern 3.270 zu 800 beträgt. Bei den Flugzeugträgern beträgt das Verhältnis 16 zu 1 und bei den Helikopterträgern 13 zu 0.Auch das Verhältnis von 8.950 zu 1.540 bei Hubschraubern deutet nicht auf einen schlechten militärischen Hintergrund auf Seiten der NATO hin.Bei den gepanzerten Fahrzeugen liegt das Verhältnis bei 850.000 zu 161.000 zugunsten der NATO.Es besteht eine relative Parität mit einem minimalen Vorteil für die Russen bei der Anzahl der Artilleriegeschütze und Kampfpanzer, aber die mehrfache Überlegenheit in anderen Kategorien würde nicht gewährleisten, dass dieser Vorteil genutzt werden könnte.

Wenn wir darüber hinaus berücksichtigen, dass die NATO über 655 Tankflugzeuge verfügt, während Russland 19 besitzt, ist es leicht zu erahnen, welche Seite in der Lage ist oder plant, auf dem Gebiet der anderen Seite zu landen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Generalstäbe im Bereich der Verteidigungspolitik ist, jederzeit über eine aktuelle Lagebeurteilung zu verfügen, und dazu steht ihnen ein Vergleich der militärischen Kapazitäten und Mittel zur Verfügung, der die spezifischen Fähigkeiten der eigenen Kräfte und die des potenziellen Gegners genau aufzeigt.

Wird der deutsche Verteidigungsminister über die Stärke der NATO und Russlands falsch informiert?

Es ist nicht nötig, dem Normalbürger die Einzelheiten einer komplizierten mathematischen Operation zu erklären, wenn wir sehen, dass es eine Differenz von etwa dem 15-Fachen des Militärhaushalts zwischen der NATO und Russland zugunsten der NATO gibt; rund 100 Milliarden US-Dollar gegenüber rund 1.500 Milliarden.

Es scheint keine institutionalisierten Verbindungen zwischen deutschen Militäranalysten und dem Kommunikationsteam des Verteidigungsministers Boris Pistorius zu geben. Andernfalls könnte es nicht zu der beunruhigenden Dissonanz zwischen der realpolitischen Bewertung der militärischen Kapazitäten der NATO und Russlands und den Erklärungen des deutschen Verteidigungsministers kommen. Worum geht es dabei? Den 15-fachen Unterschied der Militärbudgets von heute auf das 30- oder 40-Fache zu erhöhen? Reicht die mehr als fünffache Überlegenheit bei den Flugzeugen nicht aus, brauchen wir das Zehnfache?

Ist das sinnvoll? Wird die Lage in Europa dadurch besser? Ist dieser Rüstungswahn, diese Psychose, im Interesse der 450 Millionen Bürger der EU? Wird die von Washington angekündigte Stationierung von US-Tomahawk-Raketen in Deutschland, die Moskau erreichen können, die Bundesrepublik schützen oder sie zum direkten militärischen Ziel machen? Eine Eskalation und Deutschland als vorrangiges Ziel sind vorhersehbar.

Es gibt keine rationalen Argumente für eine Aufrüstung in Europa auf der Basis konkreter Zahlen, also braucht es nicht Panzer und Flugzeuge, sondern Kommunikationsarbeiter, die mit der Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine auch noch versuchen, die Wähler vom Unmöglichen zu überzeugen. Angesichts der persönlichen Glückwünsche des deutschen Verteidigungsministers an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 6. September zum Erfolg der jüngsten Militäroperation in der russischen Region Kursk scheint die derzeitige deutsche Regierung nicht für den Frieden zu sein.

Ihre Kommunikation ist eher provokativ: Boris Pistorius hat keine wirkliche Angst vor einem russischen Angriff und ist der Meinung, dass es genügend Raum für eine Eskalation mit Russland gibt – ein rationaler Akteur in den internationalen Beziehungen würde, wenn er einen Krieg mit Russland befürchten würde, versuchen, die Situation zu deeskalieren. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis deutsche Taurus-Raketen gegen russische Ziele eingesetzt werden? Vielleicht will Herr Pistorius beweisen, dass es einen Krieg mit Russland geben wird, auch wenn alle Argumente dagegensprechen? Die deutsche Diplomatie und Verteidigungspolitik bewegen sich in die entsprechende Richtung.

Das westliche Kriegsnarrativ befindet sich im Umbruch

Im März 2022 beherrschten Meldungen wie „Die Russen haben nur noch für drei Wochen Raketen“ den Kommunikationsraum. Heute sind wir an einem Punkt angelangt, an dem dieselben Experten russische militärische und wirtschaftliche Fähigkeiten voraussagen, die es Russland ermöglichen werden, nach der Niederlage in der Ukraine den Krieg in Richtung der NATO-Länder fortzusetzen. Zu welchen politischen und wirtschaftlichen Zwecken es dies tun würde, wird nicht beantwortet. Wichtig ist, dass wir Angst haben und unterstützen, dass der Krieg in der Ukraine und nicht auf unserem Boden geführt wird.

Die negative Rolle des politischen Westens, der im April 2022 das in Istanbul ausgehandelte Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland blockierte, wurde ab dem 25. November 2023 in vollem Umfang deutlich, als von ukrainischer Seite die Druckausübung des britischen Premierministers Boris Johnson eingestanden wurde. Jüngst hat das ausgerechnet die US-Außenpolitikerin Victoria Nuland bestätigt. Die Beteiligung und Verantwortung des kollektiven Westens (NATO, EU) und das faktische Versagen, das wir heute sehen (die Zerstörung der Ukraine und der europäischen Wirtschaft), stellten die sehr einflussreichen, politisch und finanziell unterstützten „Denkfabriken“, die die Kommunikation der Kriegsbefürworter dominieren, vor eine unmögliche Aufgabe. Eine dieser einflussreichen Gruppen, das Institute for the Study of War (ISW), das bisher eine führende Rolle bei der kommunikativen Unterstützung der Ukraine-Politik gespielt hat, veröffentlichte ein umfassendes Argument für die Fortsetzung des Krieges und die Unterstützung der Ukraine mit allen Mitteln: „America’s Stark Choice in Ukraine and the Cost of Letting Russia Win“.

Von der Leugnung des Stellvertreterkrieges zwischen der NATO und Russland zum Narrativ der offenen Konfrontation zwischen der NATO und Russland

Die neue Kommunikationsstrategie fördert die Fortsetzung des Krieges und drängt die wirklichen Fakten – die Ursachen des Krieges, die Möglichkeiten für einen Frieden – in den Hintergrund. Von der Rolle des ISW bei der Kommunikation der Unterstützung für das US-Engagement im Irak und in Afghanistan zeugen ausführliche englischsprachige Analysen.

Die erwähnte Analyse und das seither unveränderte Narrativ erkennen als Standardposition an, was wir alle sehen, da die Fakten bereits offensichtlich sind: „Russische Kräfte verschaffen sich einen Vorteil … Die Ukraine ist möglicherweise nicht in der Lage, ihre derzeitigen Verteidigungslinien ohne US-Unterstützung aufrechtzuerhalten …“

Laut ISW würden die Russen, wenn sie die Ukraine besiegen, bis an die Grenzen der NATO vordringen. In der Tat müsste eine sehr lange Verteidigungslinie der NATO errichtet werden, entlang derer sich die Streitkräfte der beiden Mächte an der polnischen, slowakischen, ungarischen und rumänischen Grenze ständig gegenüberstehen würden („(…) daher muss die NATO damit rechnen, dass sie entlang ihrer gesamten Grenze vom Schwarzen Meer bis zur Arktis mit großen russischen konventionellen Streitkräften konfrontiert wird, sodass die südlichen polnischen, ungarischen, slowakischen und rumänischen Grenzen zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion von russischen Bodenangriffen bedroht wären.“)

Die Änderung der Darstellung durch die westlichen Experten ist eine komplette Kehrtwende, eine Wende von Saulus zu Paulus! Ihre von Panik geprägte Argumentation ist nichts anderes als das Nachplappern der Argumente, die Russland seit 2007 vorbringt: Die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands werde die europäische Sicherheit nicht erhöhen, da es dadurch zu direkten Kampfkontakten kommen werde und man sich für immer „gegenüberstehen“ werde.

Dem ISW zufolge würde die Unterstellung der Ukraine unter russische politische Herrschaft bedeuten, dass „die Russen bis an die Grenzen der NATO vordringen würden“. Der Autor stört sich nicht an der formalen Logik: Die Ukraine in die NATO zu zwingen, würde denselben direkten militärischen Kontakt zwischen der NATO und Russland schaffen, nur viel näher an Moskau entlang der finnischen, baltischen und ukrainischen Grenzen.

Wenn es unser Ziel ist, keine gemeinsamen Grenzen zwischen der NATO und Russland zu haben, warum erzwingen wir dann die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine?

Wäre es nicht im Interesse Europas, wenn eine neutrale Ukraine, die effektiv mit dem Osten und dem Westen zusammenarbeitet, als Pufferzone fungieren würde, um das Risiko einer militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland zu verringern? Der US-Autor des oben erwähnten ISW-Artikels ist der Ansicht, dass eine gemeinsame NATO-Russland-Grenze ein hervorragendes Instrument ist, wenn sie an der finnisch-russischen, baltisch-russischen und ukrainisch-russischen Grenze (500 Kilometer von Moskau entfernt) geschaffen wird – und somit die europäische Stabilität nicht bedroht! Wenn aber eine NATO-Russland-Grenze weiter von Moskau entfernt geschaffen wird, hätte das katastrophale Folgen.

Die optimale Variante wird von den westlichen Denkfabriken nicht in Betracht gezogen, da sie den geopolitischen Vormarsch der USA behindern würde: Die einzige Möglichkeit, einen direkten Kampf zu vermeiden, besteht darin, die Schaffung einer gemeinsamen NATO-Russland-Grenze zu vermeiden – weder an der Ost- noch an der Westgrenze der Ukraine. Das ist es, wovon die Russen seit zwei Jahrzehnten sprechen und warum sie den neutralen Status der Ukraine als wichtigste Voraussetzung für den Frieden vorantreiben: Sie wollen keine gemeinsamen Grenzen zwischen der NATO und Russland.

Die Frage ist, was das Ziel des politischen Westens ist: Geht es darum, keinen Krieg mehr zu führen, oder geht es darum, die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Krieges für die kommenden Jahrzehnte zu schaffen? Ohne eine neutrale Ukraine entscheiden wir uns für die letztere Option. Hochrangige Erklärungen wie „Die Ukraine wird NATO-Mitglied“ (so NATO-Generalsekretär Stoltenberg) oder „Der Weg der Ukraine in die NATO ist unumkehrbar“ (so die Erklärung des NATO-Gipfels vom Juli) weisen nicht in die Richtung, politische, militärische und wirtschaftliche Stabilität in Europa zu schaffen.

Wer hat in den letzten Jahrzehnten darauf gedrängt, dass die NATO und Russland in direkten Kampfkontakt zueinander treten?

Wenn wir es richtig verstehen, hat sich das aggressive Russland in die Wahlsysteme der westlichen Länder eingemischt und politische Eliten an die Macht gebracht, die im Einklang mit Moskaus Interessen direkte NATO-Russland-Grenzen in den genannten Richtungen geschaffen haben und damit russischen Interessen dienen, sodass sich russische und NATO-Soldaten in Zukunft „ständig gegenüberstehen“ werden müssen.

In Georgien hat es nicht geklappt, weil die derzeitige Regierung versucht, neutral zu bleiben – zwar scheint es so, als ob sie dafür vom Westen bestraft würde und als ob die georgische Opposition von den Regierungen der NATO-Länder zu einem organisierten Regimewechsel ermutigt würde – siehe die Teilnahme der baltischen Außenminister an der regierungsfeindlichen Demonstration in Tiflis am 15. Mai 2024. Natürlich erfolgte die Einmischung in die inneren Angelegenheiten auf der Grundlage der EU-Werte, also wen interessiert es, wie oft diese Länder universelle internationale Dokumente unterzeichnet haben, in denen sie sich verpflichten, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen.

Menschen, die die Risiken der aktuellen globalen und europäischen Prozesse rational abwägen, die die Handlungen internationaler Akteure realpolitisch und nicht ideologisch betrachten und die die nationalen Interessen ihrer Länder in den Vordergrund stellen, sind entsetzt über die jüngsten Versuche, das dritte Jahr des Krieges in der Ukraine fortzusetzen und eine moralische und (pseudo-)professionelle Rechtfertigung für dessen Fortsetzung zu liefern.

Selbstbeschränkung und Empathie sind wichtige Voraussetzungen für die Praxis der Sicherheitspolitik

Nur weil ein Staat oder ein Militärbündnis mächtig ist, muss es nicht zwangsläufig das bestehende regionale oder globale Gleichgewicht stören, wie das Aufzwingen der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ab 2008, die Schaffung der innenpolitischen Voraussetzungen dafür mit der verfassungswidrigen Machtübernahme 2014 und die Sabotage der Minsker Vereinbarungen zwischen 2015 und 2022, die den russischen Interessen direkt schaden, zeigen.

Wie wir sehen, verliert Europa in allen Dimensionen durch die Internationalisierung des Krieges in der Ukraine, durch seine eigenen Sanktionen und durch die für Jahrzehnte verlängerte Instabilität in Europa. Es ist auch klar, dass die Außenpolitik des politischen Westens heute völlig ohne Empathie auskommt: Washington und die EU-Eliten betreiben internationale Beziehungen in einer Weise, die sie von keinem anderen Akteur in ihrem Sinne akzeptieren würden. Sie versuchen, den Inhalt der Souveränität, wie er in der UN-Charta verankert ist, zu vergessen und sprechen stattdessen von einer „regelbasierten Weltordnung“.

Ein hervorragendes Beispiel für Letzteres ist die Bewertung des Besuchs des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Ungarn durch die USA – Washington brachte seine Besorgnis darüber zum Ausdruck. Die derzeitige US-Außenpolitik toleriert nicht, dass das EU- und NATO-Mitglied Ungarn den Führer der zweitgrößten (und bald größten) Wirtschaftsmacht der Welt einmal in 20 Jahren zu einem offiziellen Besuch empfängt. Der chinesische Präsident kann nach Paris reisen, um Präsident Macron zu treffen, Bundeskanzler Scholz kann nach Peking reisen – in ihrem Fall erhebt Washington (noch) keine Einwände. In den westlichen Bewertungen des Besuchs des chinesischen Staatsoberhaupts in Budapest wurde die Tatsache nicht erwähnt, dass China bis 2023 sieben Jahre in Folge Deutschlands wichtigster Außenhandelspartner war, während Ungarns relative Handelsleistung mit China nur für Platz 5 oder 6 reichte. Ungeachtet dessen sind Alarmismus und Panikmache über das Ausmaß von Chinas Vormarsch im Gange – allerdings nur, was Ungarn betrifft.

Ähnliche Panikmache ist im Europäischen Parlament zu beobachten: Russophobe Abgeordnete haben gefordert, Ungarn aus dem Schengen-Raum auszuschließen, weil es russischen und belarussischen Bürgern erlaubt, in Ungarn zu arbeiten. Die Fakten waren auch hier nicht störend: In Ungarn haben etwa 7.000 russische Bürger eine Aufenthaltsgenehmigung, während die gleiche Zahl in Deutschland etwa 300.000, in Spanien 95.000, in Österreich 35.000 und in Estland 81.000 beträgt. Wen interessieren schon die Fakten, wenn das strategische Interesse des globalen Westens darin besteht, den Krieg in der Ukraine zu verabsolutieren, ihn weiter zu eskalieren und die Wiederbelebung der eurasischen politischen, wirtschaftlichen, energetischen und logistischen Verbindungen, die für Europa unersetzlich sind, dauerhaft unmöglich zu machen. Wessen Interessen vertreten diese Politiker?

So viel zur viel beschworenen Souveränität: Souverän kannst du sein, solange du deine internationalen Beziehungen, deinen Handel oder deine stimmberechtigten Positionen in internationalen Institutionen im Einklang mit den Interessen Washingtons oder der Brüsseler Eliten betreibst. In den letztgenannten Fällen wirst du immer häufiger einfach übergangen, indem man sich auf das hehre Prinzip der Solidarität beruft, um durch die – von dem internationalen Recht nicht interpretierte – „moralischen Mehrheit“ für die Usurpation deines Stimmrechts zu benutzen.

Der globale Westen sucht bereits nach einem Weg, die nationalen Interessen völlig in den Hintergrund zu drängen

Die Abschaffung des Rechts auf Meinungsverschiedenheit (Vetorecht) wird in der Europäischen Union täglich zur Sprache gebracht. Die Neueinstufung politischer Entscheidungen, die die reale Souveränität verletzen, in technische Fragen, die eine einfache Mehrheit erfordern, und die „Modernisierung“ der EU-Entscheidungsfindung, die durch Kriegshetze unterstützt wird, sind zu einem ständigen Phänomen geworden. Das Ziel scheint die völlige Ausschaltung der nationalen Souveränität bei der Bewältigung aktueller und entscheidender Prozesse in Europa zu sein (Unterstützung der illegalen Migration, Import von Krieg in die EU, selbstzerstörerische Sanktionen, Verweigerung des eigenen Zugangs zu Energieressourcen und Märkten).

Wenn die USA im UN-Sicherheitsrat ihr Veto einlegen und die Verabschiedung von Resolutionen verhindern, die oft von der gesamten internationalen Gemeinschaft unterstützt werden, ist das legitim. Wenn Ungarn sein Recht auf Widerspruch in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU im Einklang mit seinen nationalen Interessen nutzt, wie es das EU-Recht garantiert, gilt das als nicht legitim – das heißt, du bist ein Aktionär, sollst aber gegen deine Interessen stimmen. Das ist eher eine kommunistische als eine kapitalistische Haltung … Wohin geht die Reise?

Nach der obigen Logik kann Deutschland jetzt als souverän betrachtet werden, während es im derzeitigen Regierungszyklus dabei ist, seine tatsächliche Souveränität zu verlieren. „Souverän“ deshalb, weil die USA ab 2024 der wichtigste Außenhandelspartner des Landes werden; dank der radikal veränderten deutschen Import- und Exportmöglichkeiten, die durch die Sprengung der Nord-Stream-Gaspipelines und die EU-Sanktionspakete entstanden sind, die die deutsche Wirtschaft – und damit die meisten europäischen Volkswirtschaften – in eine stagnierende oder rückläufige Entwicklung gezwungen haben.

Mit anderen Worten: Die in der Überschrift erwähnte Angstmacherei zur Fortsetzung des Krieges in der Ukraine hat ihre Ziele und ihre Nutznießer. Zu Letzteren gehören weder die Ukraine noch Russland noch Deutschland.

Titelbild: Shutterstock / Jürgen Nowak – Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bei einer Pressekonferenz im Bundestag

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